
Obwohl ich mit meiner Familie nur eine Autostunde von Haridwar entfernt lebe, wollte ich dieses Mal während des glückverheißenden Neumondes „Mauna Amavasya“ über Nacht bleiben. Es ist ein günstiger Tag, um ein Bad im Ganga Fluss zu nehmen, ein Dip der sich „Mauni Amavasya Snan“ nennt…
Mauna Amavasya ist der Neumond vor Mahashivratri (einem grossen heiligen Fest Indiens). Amāvásyā (Sanskrit) bedeutet kein Mond oder Neumond. An Amavasya setzt sich die Erde zwischen Mond und Sonne und daher erhält der Mond kein Licht von der Sonne. Das Wort „Mauna“ bedeutet Stille. Viele Yogis, Sadhus und Heilige praktizieren an diesem Tag absolute Schweigsamkeit und Stille. Es ist eine gute Zeit, um zu meditieren, den geschäftigen Geist zu zähmen und zu beruhigen.
Im Voraus hatte ich ein Hotel gebucht, da Hunderttausende von Pilgern zu erwarten waren.
Anders als bei meinem letzten Besuch – als ich am frühen Morgen Hariwar erreichte und immer noch kalter Nebel über der Stadt hing – kam ich diesmal nach dem Mittagessen an. Unter strahlend blauem Himmel setzte ich mich zum Tee in den Hotelgarten direkt am Ufer des Ganges. Es war ein sonniger, angenehm warmer Nachmittag und ich fragte mich, wohin ich von hier aus gehen sollte. Ich hatte keine Pläne.
Am Nachbartisch begann eine Gruppe von vier Frauen zu chanten. Es war die melodiöseste Version der Bhagavad Gita. Nie zuvor habe ich einen so süßen, fließenden Gesang dieser epischen Geschichte gehört. Und schon gar nicht im Freien in einem Hotelcafé. Die beiden Haushunde, ein älterer Desi-Hund und ein Welpe vom Typ Labrador, gesellten sich zu uns.
Die Atmosphäre war magisch. Wie in die indische Antike zurückversetzt und doch war das vorherrschende Gefühl von herrlicher Zeitlosigkeit. Und Raumlosigkeit. Vertraut, aber ohne Anhaftung oder Melancholie.
Schließlich stand ich auf und begann einen Spaziergang entlang Ganga in Richtung Har Ki Pauri, den berühmten mystischen Tempeltreppen im Stadtzentrum. Kurz nachdem ich das Hotelgelände verlassen hatte, kreuzten ein paar junge indische Frauen meinen Weg. Wir haben uns ganz grundlos herzlich angelacht und spontan ein paar Selfies gemacht.

Ganga hatte eine ziemlich starke Strömung. Glücklicherweise war das Wasser trotz des Gletscherabsturzes und der Erdrutsche im oberen Himalaya drei Tage zuvor nur leicht schlammig. Es hatte immer noch seinen typischen Smaragdton.
Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, dass am Abend während des Aarti (tägliche Feuerzeremonie) Ströme von Staub und sandschwerem Wasser Haridwar erreichen würden. Der Srinagar-Damm oben in den Bergen beschloss, Teile der Lawine freizusetzen, die bis dahin in einem Staudamm gehalten wurden. Spätabends plötzlich stieg der Wasserpegel deutlich an, die Farbe änderte sich zu braun und seltsame milchige Schlammpartikel bildeten wirbelnde psychedelische Muster. Ich hatte die Hoffnung, dass Ganga sich bis zum nächsten Morgen beruhigen und wieder sinken würde. Aber ich war verwundert. Hätten die Beamten des Wasserkraftwerks nicht noch einen Tag mit der Öffnung des Staudamms warten können, um das Hochwasser nach dem wichtigen Badetag freizugeben?
Eine ganz andere Art von Mustern, nämlich schöne hellstrahlende Wandmalereien, befanden sich überall in der Stadt an Wänden, Brücken und Gebäuden. Wandgemälde mit Szenen aus alten Schriften, hübsche Ornamente sowie humorvolle Darstellungen des Lebens von Heiligen und Saddhus sorgten für ein erfrischend künstlerisches Look & Feel. Es schien, als wäre keine einzige graue Oberfläche leer geblieben.

An den Ufern des Ganga kamen eine Vielzahl von Menschen zusammen. Sadhus, Yogis, Verkäufer von Blumen, Luftballons, Snacks und Zuckerwatte, Dorffrauen, Geschäftsdamen, Kinder jeden Alters, Hunde, Vögel und Kühe, Polizei zu Fuß oder zu Pferd, Einzelpersonen, Paare und Familien, Einheimische und Touristen. Sie kamen zum Telefonieren, Fotografieren, Flanieren, Spielen, Sitzen, Ausruhen, Schauen, Lesen, Schlafen, Chatten, Essen, Nachdenken…

Und wie viele tausend Menschen besuchten das Ganga Aarti an diesem Abend. Es war inspirierend und wohltuend, unter diesen vertrauensvollen Seelen zu sein, die nicht davor zurückschreckten, sich der Kumbh Mela anzuschließen. Die keine Angst vor einem Virus mit einer Überlebensrate von 99% hatten und es nicht zuließen, ihre Lebendigkeit zu unterdrücken – die natürliche menschliche Neigung sich zu bewegen, zu reisen, Kontakte zu knüpfen, frei zu sein.
In der Abenddämmerung ging ich zurück zum Hotel und hatte das Glück, auch die kleineren Lichtzeremonien, die von den Ashrams und Tempeln am Flussufer abgehalten wurden, miterleben zu können. Vielleicht kannst Du Dir die Szene vorstellen. Gleich nach Sonnenuntergang erklingen Glocken und Zimbeln, überall sind Ghee-Lämpchen, intensiver Weihrauch, Mantra-singende Priester, zirkulierende Feuerlampen, betende oder sich der heiligen Feststimmung meditativ hingebende Menschen… Reizende Palmblattboote voller guter Wünsche, aromatischer Blüten, Zuckerperlen und Kampferkerzen, werden achtsam auf der Wasseroberfläche von Ganga Ma platziert und schweben dann auf den Flusswellen davon…

Donnerstag, 11. Februar 2021. Ich bin früh aufgewacht und das Erste was ich tat: Gangas Wasserstand überprüfen. Niedrig. Zu niedrig für ein Bad! Was ist hier los?
Ich traf eine der „vier Damen“ im Flur. Auch sie überprüfte den Flussstatus. Es stellte sich heraus, dass sie und ihre Freundinnen nur für eine Nacht aus Delhi angereist waren. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und saß eine Weile schweigend da. Was jetzt? Ich bestellte Chai (indischer Gewürztee) und beschloss, erstmal in der Nachbarschaft spazieren zu gehen.
Beim Überqueren der ersten Flussbrücke konnte ich viele Aktivitäten auf den Tempel Ghats (Terrassen) direkt am Ufer von Ganga hören und sehen. Priester, Familien und viele andere trafen sich in kleinen Gruppen und bereiteten spezielle Pujas für den Tag vor. Komplexe spirituelle Rituale wie Feuerzeremonien, Ehrerbietungen für die Götter in Form von Blumen, Früchten und Mantras. Alle paar Meter gab es eine solche Versammlung oder eine Person allein.
Angesichts des niedrigen Wasserstandes war ein richtiges Eintauchen in Ganga nicht möglich und so benutzten die Leute eine Lota (vasenartiges Metallgefäss), um damit das segensreiche Ganga-Jal zu sammeln und dann über ihre Körper zu gießen.
Mir wurde klar, dass ich in all den Jahren in Indien nie einen niedrigen Wasserstand vorgefunden hatte. Somit war mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass eventuell ein Behälter für das heutige heilige Bad notwendig sein könnte. Eine Lota war das, was ich brauchte, aber es gab keinen entsprechenden Laden in der Umgebung. Ich setzte meinen Spaziergang fort und kaufte ein Palmblattboot, das mit Rosen, Ringelblumen, Weihrauch, Mishri (Zucker) und einer Kampferkerze gefüllt war. Auf dem Rückweg zum Hotel bot mir ein Priester Licht (Feuer) und Segen an. Er trug eine Mütze mit der Aufschrift „Victory“. Na denn!

Ich ging weiter und suchte nach einer Lösung für die Snan-Herausforderung. Die einzige Option, an die ich denken konnte: der 1-Liter-Plastikkrug aus der Badewanne in meinem Hotelzimmer. Oh, so unprofessionell! rief mein (Ex-) Unternehmergeist. Warum habe ich keine Lota von zu Hause mitgebracht? Ein Plastiktopf für den Ganga Snan, wie unelegant. Diletantisch! Aber dann hörte ich meine wahre innere Stimme: Marina, du tust es von Herzen, und das ist es, was zählt. Deine Absicht ist wichtig, der Container spielt keine Rolle.
(Hinweis: An einem der folgenden Tage, zu Hause, befragte ich meine ayurvedische Ärztin, welche Lota, vor allem welches Metall, für Ganga Snan am vorteilhaftesten ist. Sie empfahl ein Kupfergefäß.)
Um es kurz zu machen: Als an diesem Morgen die Sonne durchkam und das Ghat vor meinem Hotel traf, stieg ich mit dem Plastikbehälter, meinem kleinen Blumenboot und einer Streichholzschachtel die Treppen zum Wasser hinab. Während ich das Hotelgelände verließ, waren die vier Damen aus Delhi damit beschäftigt, ihre Puja im Garten zu dirigieren. Ihr Gesang war der Hintergrundton für mein Ritual.
Ich stieg die extrem rutschige Ghat-Treppe hinunter in Richtung Ganga. Der noch feuchte Schlamm vom Hochwasser bedeckte jeden Schritt. Ein weiterer Priester tauchte aus dem Nichts auf und beobachtete mich. Als ich die Diya anzündete, begann er Mantras zu rezitieren. Optimale Orchestrierung. Obwohl ich mich darauf konzentrieren musste, das Gleichgewicht auf dem schlammigen Boden zu halten, spürte ich eine Welle wunderschöner Energie, und Dankbarkeit.
Fünf große eiskalte Wassergüsse über meinen Körper und ein Gebet später, kehrte ich ins Hotelzimmer zurück. Erfrischt und glücklich. Bereit für trockene Kleidung und einen weiteren Chai!

War ich besorgt über Gangas Wasserqualität? Ja und Nein. Ich hatte den Hotelmanager nach dem ungewöhnlichen Schlamm befragt. Er erklärte, es sei Balu, eine Art Sand / Mineralstaub, und nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.
Ich erinnerte eine Geschichte, die mir Mataji Vanamali aus Rishikesh einmal erzählt hatte. Die Geschichte eines guten Königs, der tief in Sadhana (spiritueller Praxis) versunken war, sowie in Bhakti (Hingabe) für seine Familiengottheit Lord Padmanabha. Eines Tages bestach einer der Feinde des Königs den Tempelpriester, um das Prasaad (Tempelmahl) des Königs zu vergiften, aber aufgrund seiner unerschütterlichen Hingabe und seines unerschütterlichen Glaubens überlebte der König den giftigen Angriff… Ich mag diese Story, die übrigens wahr ist (es geht dabei um den King of Travancore namens Marthanda Varma). Und ich habe deren Botschaft über unerschütterliches Vertrauen in das Höchstgöttliche am Morgen von Mauna Amavasya angewendet.
„Dies ist der Raum, der die seltene Gelegenheit bietet, alle Ängste und Übertretungen der wurzellosen Neuzeit in die Einheit und Glückseligkeit der Hingabe in den Armen der göttlichen Mutter Ganga aufzulösen. Es ist ein großer Segen, dass der Glaube alle Vorbehalte besiegt, wenn keine Glotzer, Lärmer und Belästiger vorhanden sind, in einer Atmosphäre der einfachen Feier des reinen Glaubens und sonst nichts. Es ist an der Zeit, dass mehr „moderne“ Inder auch lernen, das treulose Furnier der Überlegenheit zu verwerfen, um sich mit den zeitlosen Überzeugungen zu verbinden, die den Kern dieser kraftvollen Tradition des Kumbh Snan bilden.“
– Pia Prasad, Journalistin
Die Kumbh Mela hat gerade erst begonnen. Ab März, wenn die königlichen Bäder (Shahi Snan) geplant sind und die Akharas (traditionelle spirituelle Akademien) ihre Lager errichtet haben, sind Menschenmengen aus allen Himmelsrichtungen zu erwarten. Hier nun noch ein kurzes Video, das ich zusammengestellt habe.
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Liebe Marina,
danke für den interessanten Einblick in eine völlig andere Welt, obwohl wir im gleichen Land leben. Konnte keine Maske sehen, was mich erfreut überraschte. Ist das wahr? Hier im Süden ist gar nicht dran zu denken, ohne aus dem Haus zu gehen, ansonsten drohen Geldstrafen.
Hoffe, es geht Dir soweit gut.
Herzliche Grüße aus den Tigerbergen Sylvie
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