Leben wir, aber leben wir eben doch noch als Lastträger des Nationalsozialismus? Ist unser Tun und Sein trotz all der langjährigen inneren Heilarbeit vielleicht doch nicht ausreichend, um ein Gegengewicht schaffen und unseren Familienstammbaum lebendig halten zu können? Sind wir, die jetzt 35-, 40- und 50-jährigen immer noch Teil des Genozids, selbst wenn wir leben, weil die vergangenen Geschehnisse so tiefgreifend waren und schicksalshafte Generationsbrüche bzw. generationsübergreifende Belastungen und Blockaden bewirkt haben?
Während mich heute morgen plötzlich und überraschend eine starke Depressionswelle überrollte, bei der mir klar war, es hat nichts mit meinen persönlichen Lebensumständen zu tun, flatterte parallel eine email in mein Postfach, mit einem Artikel von Hergen Junge, der den Titel How did Germans feel right after World War II? trug. Die Mail war von einer guten Bekannten, die mir nach langer Zeit ausgerechnet heute schrieb, und beinhaltete wichtige Informationen, die ich in Bezug auf die schwere Wolke, die mich umwaberte, einordnen konnte: das historische deutsche Kriegstrauma, welches leider in vielen Deutschen weiterlebt, weil es immer noch nicht grundlegend geheilt ist.
Was hat das mit mir zu tun? Nun, zum einen ist da mein eigener Hintergrund als in Deutschland Geborene und zum anderen auch dieser Aspekt: wenn jemand bereits den Grossteil seiner individuellen Ahnen- und Elternthemen durch Heilarbeit und spirituelle Praxis transformiert hat, kann es sehr gut sein, dass er/sie aus heiterem Himmel, ein Paket aus dem Kollektiv-Bewusstsein vor die Füsse geworfen bekommt, um dies anzuschauen und in einen Transformationsprozess zu geben.
Viele Individuen meiner Generation sind sich bewusst darüber, dass wir ein Menge an belastendem Gepäck vererbt bekommen haben. Und manchmal scheinen unsere Leben und unsere Heilbemühungen nicht ausreichend, um die Schäden, die in Körper / Herz / Seele unserer Vorahnen während der Weltkriege entstanden, auszugleichen und endgültig abzuschliessen. Das energetische Schwergewicht erscheint weiterhin riesig. Fast wie eine Bestrafung. Und die nationalen, deutschen Tendenzen – Bewunderung von Intellekt, Pragmatismus und Ratio, sowie der zuweilen extremen Vorliebe für technisch ausgefeiltes Ingenieurwesen (Made in Germany) – sind eine geradezu willkommene Ablenkung, um den Blick nach Innen und das Fühlen zu vermeiden. Deutschland ist in vielerlei Hinsicht eine hochpotente Nation, aber leider immer noch im Zustand von Verleugnung und emotionaler Paralyse. Gedenkmäler und Feiertage sowie schulische Lehrpläne dienen dazu, „niemals zu vergessen“ was war, aber sie sind letztlich doch nur oberflächliche Pflaster für wesentlich tiefer reichenden Schaden.
Vor einiger Zeit schrieb ich einen Artikel über die Unmöglichkeit, reife und glückliche Beziehungen zu leben, wenn die psychischen Wunden destruktiver Kindheitserlebnisse und die damit einhergehenden Seelenabspaltungen und regressiven Verhaltensmuster nicht geheilt sind (siehe Einklang des Weiblichen & Männlichen). Das gleiche gilt natürlich auch für Kriegstraumata mit ihren Implikationen für alle Beteiligten (egal ob Täter, Opfer, Retter, Märtyrer oder Beobachter). Insbesondere wenn die Grosseltern ihre Erlebnisse gutgemeint unter dem Deckmantel des Verschweigens hielten, sind es genau diese Verleugnungen oder Geheimnisse, die zur transgenerationalen Weitergabe der Trauma-Erfahrungen an die Nachkommen führen.
Ein deutsches Dilemma ist, dass alle emotionalen Schmerzen und Schockerlebnisse, die unsere Familienväter und – Mütter nicht geheilt, sondern unterdrückt und ignoriert haben, bei uns gelandet sind. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, unser Zellgedächtnis und Unterbewusstsein halten all diese beschwerlichen Daten gespeichert, solange bis wir sie würdigen und bewusst entlassen. Dieses Phänomen ist auch unter dem Begriff unbewusste Schuldverstrickungen bekannt.
„Traumatische Erfahrungen, die von Betroffenen nicht verarbeitet und integriert werden können, bleiben nicht nur für diese selbst eine lebenslange Belastung. Sie zeigen sich auch in den Träumen, Phantasien, im Selbstbild, emotionalen Erleben und unbewussten Agieren ihrer Nachkommen. Sowohl bei psychischer Krankheit der Eltern, bei Erfahrungen von Misshandlung und Missbrauch wie auch bei Kriegs- oder Foltererfahrung treten transgenerationale Übertragungsphänomene in den nachfolgenden Generationen auf. Besonders bei Kindern und Enkeln von Überlebenden des Holocaust wurde dieser Zusammenhang seit Mitte der sechziger Jahre offensichtlich, als die nun jungen Erwachsenen der zweiten und dritten Generation vermehrt therapeutische Hilfe suchten.“
– Ilse Grubrich-Simitis in Extremtraumatisierung als kumulatives Trauma
„Können in der zweiten Generation die ihr aufgegebenen Rätsel nicht gelöst, die unverarbeiteten traumatischen Eindrücke nicht integriert und durch Trauerarbeit bewältigt werden, kommt es auch in der dritten Generation zu Gefühlen von etwas Dunklem, Rätselhaftem, Unverständlichem, das in seiner affektiven Qualität bedrückend, irritierend und wie ein Fremdkörper wirkt und zugleich ein unauflösbares Band zu den Eltern oder/und Großeltern und deren Geheimnissen knüpft. (…) Die Hoffnung, dass sich die Übertragungen der unbewussten traumatisierenden Botschaften von Opfern oder Tätern in der Generationenfolge abschwächen würden, werden durch die Untersuchungen von Rosenthal et al. (1997, 2002) nicht bestätigt. Im Gegenteil zeigt sich eine Verstärkung von Tendenzen des Agierens in der dritten Generation. Über die Folgen für die vierte Generation liegen bisher nur wenige Erkenntnisse vor, die jedoch erkennen lassen, dass auch diese von den durch die früheren Generationen unverdaut gebliebenen unbewussten Botschaften betroffen sind (…) Bei den Enkeln zeigen sich häufig tiefgreifende Ängste, Unsicherheiten und ein Gefühl von innerer Zerrissenheit zwischen Loyalität und dem Wunsch nach Distanzierung. Sie pendeln zwischen Aufdecken- und Verhüllenwollen. Bei einigen der interviewten Enkel/innen zeigten sich deutliche Tendenzen zur Selbstbestrafung.“
– Angela Moré in Journal für Psychologie
Ich habe mehr als die Hälfte meines Lebens im Ausland verbracht und die Distanz zu Deutschland hilft, zu erkennen, wie die Deutschen immer wieder dieselben Themen recyceln. Es ist jedoch keine Lösung, ständig an die Gräueltaten der Vergangenheit und die “deutsche Schuld‘ erinnert zu werden, oder dass wir mehr und mehr über die vergangenen Ereignisse lernen und WISSEN. Der einzige Weg nach vorne besteht darin, dass wir spürbewusster werden und darauf achten, was wir FÜHLEN und welche schmerzhaften Prägungen in unserem Unterbewusstsein gespeichert sind, die unsere Lebensqualität einschränken. Wir müssen das, was in unseren Systemen vergraben ist, ins Licht des Gewahrseins führen: begrenzende Glaubenssätze und Lebensmuster, Ängste, emotionale Ladungen und diffuse Energien, seien sie von unseren Vorfahren, von unseren Eltern oder vom deutschen Kollektivbewusstein übernommen. Krankheiten, Schlaflosigkeit, Beziehungsprobleme, Partner – oder Kinderlosigkeit sowie latente Wut oder Gereiztheit können da wegweisende Symptome sein.
Es ist höchste Zeit, von den ewig gleichen, sich wiederholenden Betrachtungen der deutschen Vergangenheit abzulassen und etwas Neues und Frisches zu kreieren. Es bedarf jedoch einer bewussten neuen Entscheidung (und zwar eines jeden Einzelnen). Ja, vielleicht gibt es Blut an den Händen unserer Vorfahren, aber es gibt keines an unseren Händen. Wir sind nicht die Leute, welche die Grausamkeiten der Kriege begangen oder unterstützt haben. Wir dürfen nicht nur frei sein, es ist sogar unser Lebensrecht, uns leicht und glücklich zu fühlen!
Und obwohl eine neue bewusste Entscheidung einen entscheidenden Schritt darstellt, ist tatsächliche auch konkrete holistische Heilarbeit erforderlich. Die beiden Weltkriege verursachten unzählige Traumata – individuell und kollektiv. Unvorstellbar, wie viel Seelenfragmentierung und Dissoziation sowohl bei den Opfern als auch bei den Tätern entstanden sein muss. Trotzdem, oder womöglich gerade deshalb, haben nur wenige unserer Großeltern und Eltern mit der Heilung begonnen und das Erlittene verarbeitet. In der Regel ist es ja die jüngere Generation (Stichwort „Kriegsenkel“), welche aufräumt und Therapien beginnt, um sich selbst zu helfen. Was letztendlich ihrer ganzen Ahnenreihe zugute kommt.
Ich glaube, bevor tiefe nationale Heilung stattfinden kann, müssen sich die Deutschen erst einmal Selbstakzeptanz erlauben. Und sich dann einem ehrlichen Rückblick und der nüchternen Realisierung öffnen, dass nicht alles während ihrer Kindheit und in ihren emotional gelähmten Familien perfekt war. Dies ist der Einstieg in das Heilen der eigenen emotionalen Datenbank und der frühen Beziehung zu den Eltern – der Mutter (und ihren Manipulationen) sowie dem Vater (und seiner Abwesenheit). Wesentlich hier: trauern, vergeben, respektieren und weitergehen.
Die Schrecken der Kriegszeit waren Teil eines kollektiven Bewusstseins innerhalb und außerhalb der deutschen Grenzen, da auch andere Nationen beteiligt waren. Für die Deutschen ist es sicher wichtig, dies zu realisieren und sich gegen den Druck, sich ständig für ihre Vergangenheit entschuldigen zu müssen, zu immunisieren.
Es ist hilfreich, sich auf positive deutsche Eigenschaften zu konzentrieren und damit zu arbeiten. Denn nur durch Wiedererlangung ihrer Würde, begleitet von einem bewussten Austreten aus dem Zyklus minderwertigen bzw. überlegenen Verhaltens, können die Deutschen sich wirklich befreien. Und ihre Aufmerksamkeit vom outer Engineering zum inner Engineering richten – zum Beispiel auf die Erforschung der Bedeutung des Lebens und menschlicher Selbst-Realisierung. Auf die Rückverbindung mit dem eigenen Körper und Geist, mit dem inneren Wissen und lichtvollen Herzen, mit der Natur und dem Kosmos – und letztlich mit der wohlwollenden, höheren, göttlichen Intelligenz, die unser Leben durchströmt und vitalisiert.
Weiterführende Literatur:
Kriegsenkel:
Die Erben der vergessenen Generation
von Sabine Bode
Die vergessene Generation:
Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
von Sabine Bode
Ohne Wurzeln, keine Flügel:
Die Systemische Therapie
von Berthold Ulsamer
Traumakinder:
Warum der Krieg immer noch in unseren Seelen wirkt
von Jens-Michael Wüstel
Acknowledging what is:
Conversations with Bert Hellinger
von Bert Hellinger und Gabriele Ten Hövel